In "Neues vom Valentin" öffnen Alfons Schweiggert und die Couplet AG die Schatzkammer eines Großen
Es zerreißt einem das Herz, wie dieser Karl Valentin gelitten haben muss. Diese Kluft zwischen der Lust am Schauspielern und der Angst vor dem Schritt auf die Bühne. Diese Liebe zu seiner Heimatstadt München und diese permanente kalte Schulter, die er dafür erntet. Dieses von Zweifeln getriebene, geistreiche Zerlegen von Sprache in ihre innersten Bestandteile und diese Reduktion seiner Botschaften auf Heiteres. Diese unbezahlbare Sichtbarkeit in seiner Zeit und seiner Welt - und dann dieses Elend mit dem Geldmangel, den abgewiesenen Ideen, dem Hunger und der Sucht. Ein Beispiel nur: Dieser Mann hat vor mehr als 100 Jahren die alten Häuser Münchens fotografiert, bevor sie andere rücksichtslos abgerissen haben. Aber die Bilder haben jahrzehntelang keinem außer ihm selbst etwas bedeutet. Man möchte weinen.
Dass es soweit kommt, ist Alfons Schweiggert zu danken, Münchner Turmschreiber und Valentin-Biograf. Wenn er als Geschichtenerzähler sein Wissen und seine Gedanken zu jenem Mann wiedergibt, den jeder zu kennen meint und den doch nur wenige ganz verstanden haben dürften, dann verschwinden Begriffe wie "Komödiant", "Kabarettist", "Volksschauspieler" oder "Filmkünstler" im Schatten der Bedeutungslosigkeit und es bleibt übrig: ein Mensch, der einem nahesteht wie ein Bruder und gleichzeitig fremd bleibt wie eine zufällige Begegnung. Es passt gut, wenn Schweiggert gegen Ende des Programms "Neues vom Valentin" das bekannte Stück vorträgt über den "Fremden, der nur in der Fremde fremd" ist, dessen Tiefgang und Geisteskraft von biblischer, unergründlicher Dimension ist: "Am Anfang war das Wort. . . "
"Neues vom Valentin" am Freitagabend, als zweite Veranstaltung der neuen Reihe der "Kieslstoandln" in der Trattoria Limone von Pöring, öffnete einen Blick auf diesen Mann, wie durch einen Kristall gebrochen, vieldeutig, überraschend, wechselhaft. Dazu trugen neben Schweiggerts feinsinniger und aufmerksamer Betrachtung jene Lieder bei, derer sich die "Couplet AG" angenommen hat: Couplets eben, weitgehend unbekannt und verschollen, auf Wunsch der inzwischen verstorbenen Valentin-Enkelin Anneliese Kühn wieder aufgegriffen. "Die Moritat im Großstadt-Dunkel", "Wenn ich einmal der Herrgott wär", "Das Volksauto" sind Edelsteine aus der Schatzkammer der Valentinaden, das in den Trümmern der Nachkriegs-Stadt entstandene "Mein München" ist eine zu Diamant erstarrte Träne, formvollendet gefasst in ausgesucht guten Arrangements.
Denn die Gratwanderung zwischen der Referenz an Stil und Tonalität des Urhebers und dem Verzichten aufs bloße Imitat zugunsten inniger Lebendigkeit vollzieht das Quartett Bianca Bachmann, Jürgen Kirner, Berni Filser und Bernhard Gruber mit vollendeter Artistik. Sie hätten es sich ja leicht machen können, ein paar garantierte Lacher abholen und mit einem Abziehbild des Originals die Nostalgiker beglücken. Oder mit einer frechen Neuinterpretation an einem Säulenheiligen rütteln. Aber sie sind den schwierigeren Weg gegangen, haben den Vordenker gelesen, seinen Tönen die eigenen Noten und seinem Spott frische Kraft gegeben, seinen Worten eigene Akzente, seinem Glanz neue Strahlkraft. Umso stärker die Wirkung, umso überzeugender der Auftritt, umso beifallswürdiger die Kunst der Couplet AG.
Die Reaktionen des Publikums im vollbesetzten Saal zeigten an diesem Abend zudem: Wahre Bonmots, einzigartige Gedanken, tiefsinnige Betrachtungen, vollendete Schlagfertigkeit - sie wirken nicht nur im Moment, sondern weit über den Tag hinaus. In ihrer schleifpapierscharfen Prägnanz haben die Botschaften dieses saugroben Knochens sich tief ins kollektive Wissen der Gesellschaft eingeritzt, sie trotzen in der Dürre ihrer wenigen Zeilen den Abnutzungserscheinungen des Fortschritts und der Vergesslichkeit. Das haben sie der Twitterei von heute voraus, bei der ernsthaft zu bezweifeln ist, ob sich 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers da jemand noch daran erinnern mag. Das unterscheidet den wirklich Großen von den Scheinriesen.